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„... wenn aus Aerzten Richter wurden“

ULRICH PREHN

Das Forschungsprojekt „Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands im National­sozialismus“ und die Ausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“

Der bekannte österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl wurde Ende April 1945 aus dem Lager Kaufering VI – Türkheim, einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau, befreit. Etwa ein Jahr später richtete er seinen Blick auf die mehrheitlich unrühmliche Rolle, die sein Berufsstand während der zwölf (bzw. in Österreich sieben) Jahre nationalsozialistischer Herrschaft gespielt hatte:

„Wen scherte es weiter, wenn aus Aerzten Richter wurden, Richter über Sein und Nichtsein anderer – wo nicht noch viel schlimmer: nicht nur Richter, sondern zugleich Henker …“.[1]

Frankl bezog sich in seinem Beitrag zum Katalog der im Herbst 1946 im Wiener Künstlerhaus gezeigten Ausstellung „Niemals vergessen!“, dem er den Titel „Lebenswert und Menschenwürde“ gegeben hatte, auf den systematischen Mord an Patientinnen und Patienten im Nationalsozialismus, der noch jahrzehntelang häufig mit der euphemistischen Umschreibung „Euthanasie“ bezeichnet werden sollte. Für Frankl hingegen war „das, was man als organisierten Gnadentod ausgab“, nichts anderes „als gewissenlosester Massenmord“. „Für den verantwortungsbewußten Arzt“, so Frankl weiter, habe es nur eine Alternative gegeben: „er mußte nun entweder Henkersknecht sein oder Saboteur am Henkerswerk“.[2]

In der Tat waren die persönlichen, individuellen Entscheidungen, die Ärzt:innen (die allesamt dem hippokratischen Eid verpflichtet waren) in den Jahren nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland sowie im deutsch besetzten Europa zu fällen hatten, ebenso schwierig wie folgenreich. Dabei ist zu bedenken, dass nicht alle Bereiche ärztlichen Handelns von den Beteiligten Entscheidungen verlangten, die sie – wie in Frankls apodiktischer Zuspitzung – zwangsläufig zu „Henkersknechten“ oder „Saboteuren“ machen mussten. Denn es gab im ärztlichen Alltagshandeln durchaus Bereiche, die Grauzonen darstellten – Situationen, in denen die Betreffenden sich nicht zwischen „gut“ und „böse“ entscheiden mussten. Und gleichzeitig basierten keineswegs alle Prozesse, die die historische Forschung über die deutsche Ärzteschaft vor, während und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland beleuchtet und analysiert hat, auf individuellen Entscheidungen oder deren Summe. Wahrscheinlich trifft es ein Befund des österreichisch-US-amerikanischen medizinischen Sachverständigen im Nürnberger Ärzteprozess, Dr. Leo Alexander, aus dem Jahr 1949 besser: „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“.[3]

Unsere Recherchen zu der Ausstellung „System­erkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ haben ergeben, dass solche feinen Verschiebungen in der „Grundeinstellung“ von Ärzt:innen sehr wohl für die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland kennzeichnend waren. Ab Mitte der 1930er-Jahre – und verstärkt während des Zweiten Weltkriegs – ist jedoch zunehmend von Brüchen und radikalen Paradigmenwechseln zu sprechen, kaum mehr von „feinen Verschiebungen“. Um diese Radikalisierungsprozesse[4] anschaulich und an Beispielen aus unterschiedlichen Diskurs- und Betätigungsfeldern herauszuarbeiten, haben wir auch solche Bereiche, die von der historischen Forschung bislang eher vernachlässigt wurden, in die Darstellung miteinbezogen. Dazu gehört etwa die Entwicklung der ärztlichen Schweigepflicht (sprich: deren sukzessive Aushöhlung) im Nationalsozialismus[5]. Die Initiativen zur Ein­schränkung der ärztlichen Schweigepflicht im nationalsozialistischen Regime verdeutlichen: Neben den Ärzt:innen und den Patient:innen tritt uns in den Dokumenten und Abbildungen, die wir in der Ausstellung zeigen, beinahe durchgängig eine dritte Akteursgruppe entgegen: die der ärztlichen (Standes-)Organisationen, namentlich die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD), der Deutsche Ärztevereinsbund, der Hartmannbund und die Reichsärztekammer (RÄK). Hatten der Ärztevereinsbund und der Hartmannbund bereits seit 1873 bzw. 1900 bestanden, waren KVD und RÄK Organisationen, die erst in der NS-Zeit auf den Plan traten und seit 1933 bzw. 1936 als „zwei effizientere Transmissionsriemen nationalsozialistischer Gesundheitspolitik bereitstanden“.[6]

Abb. 1: Beschrifteter Rücken eines Aktenordners der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschland, vermutlich der Rechtsabteilung der KVD | Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00513

Dokumente dieser Standesorganisationen sind zudem aussagekräftig bezüglich der Rolle, die KVD und RÄK bei der Verdrängung politisch unerwünschter und jüdischer Ärzt:innen spielten. So fanden wir etwa in den Akten, die vermutlich aus der Rechtsabteilung der KVD stammen, einen Aktenordner mit einer lediglich aus einem einzigen Wort bestehenden Beschriftung; sie lautet ganz schlicht: „Juden“ (Abb. 1)[7]. Die darin enthaltenen Trennstreifen sind – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – in der NS-Zeit beschriftet worden (z. B. „Ausschaltung der jüdischen Ärzte“). Dort sind nicht nur die Verordnungen zur Entrechtung der jüdischen Ärzt:innen (teils als Rundschreiben, teils abgedruckt im „Deutschen Ärzteblatt“) überliefert, sondern auch Regelungen zum Umgang mit den sogenannten jüdischen Krankenbehandlern.[8] Ein 19-seitiges Rundschreiben des Reichsärzteführers, in Vertretung gezeichnet von Dr. Heinrich Grote[9], an die Ärztekammern, mit handschriftlichem Vermerk „Betr. Jüd. Krankenbehandler“, vom 17. Oktober 1938 gipfelt in folgender Formulierung: „Es kann nicht unser Ziel sein, die Wartezimmer der deutschen Ärzte mit Juden zu bevölkern.“[10] Anders ausgedrückt: Zu „Krankenbehandlern“ degradierte (deutsch-)jüdische Ärzt:innen sollten die medizinische Versorgung „ihresgleichen“ gewährleisten, damit deutsche (nichtjüdische) Ärzt:innen sich ausschließlich um die sogenannten deutschen Volksgenossen kümmern konnten.

Dieser Ordner[11] enthält auch Vorgänge zur Ab­erkennung der Approbation jüdischer Ärzt:innen zum 30. September 1938, z. B. ein Rundschreiben des Reichsarztregisters an die Verwaltungsstellen der KVD, die Arztregister führten, vom 14. Oktober 1938. Das Rundschreiben enthielt die ausdrückliche Anweisung, dass jüdische Ärzt:innen künftig nicht über den Entzug ihrer Zulassung informiert werden sollten bzw. dass der Zulassungsausschuss über etwaige Beschwerden nicht zu verhandeln brauche.[12]

Entscheidungsprozesse, Handlungsspielräume – und eine Lederaktentasche

Im Zuge der Auswertung der für lange Zeit in Köln aufbewahrten Archivalien der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands sowie deren Nach­folgeorganisation (hier bezeichnet als Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung), die seit Februar 2019 im Zentrum für Anti­semitismusforschung der TU Berlin archiviert sind, treten zwei historische Materialien durch ihre Bedeutung und ihren Aussagewert besonders hervor. Dabei handelt es sich, erstens, um einen umfangreichen gebundenen Band mit der Beschriftung „KÖLN – Fragebogen betr. Abstammung bis 30.9.34, G–K“ (Abb. 2)[13], in dem wir u. a. den Fragebogen fanden, den der 1898 geborene deutsch-jüdische Arzt Dr. Max Goldberg am 5. Mai 1933 ausfüllte und unterzeichnete. Wir wissen nicht (und werden vermutlich nie erfahren), warum ausgerechnet dieser eine, insgesamt 352 Blatt zählende Band überliefert ist und was mit den anderen geschehen ist, die die Fragebögen von Kölner Ärzt:innen mit den Initialen A–F und L–Z enthielten.

Da die Fragebögen nicht nur detaillierte Angaben über die ausfüllenden Ärzt:innen enthalten – etwa über ihren Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg –, sondern auch eine Vielzahl handschriftlicher Vermerke, Kommentare und Unterstreichungen der bearbeitenden Person bei der Kassenärztlichen Vereinigung, liefern sie wertvolle Einblicke in die Argumentationsweisen und Selbstbehauptungsstrategien der vom Entzug der Kassenzulassung bedrohten Ärzt:innen als auch in das Agieren der KV-Angestellten.

Zwei von einem gewissen „Eigen-Sinn“ zeugende Fragebogen-Einträge nahm der 1874 geborene Kölner Arzt Dr. Georg Jungbluth am 12. Mai 1933 vor. In das vorgedruckte Feld „Konfession (auch Konfessionswechsel)“ trug er ein: „stets katholisch“ – und in das Feld „Staatsangehörigkeit (auch Staatsangehörigkeitswechsel)“: „stets Preusse“.[14] In einem anderen Fragebogen vom 12. Mai 1933 hatte der unterzeichnende Arzt Dr. Karl Horchler im entsprechenden Feld „evangelisch“ angegeben, was jedoch durch einen handschriftlichen Vermerk des den Fall bearbeitenden KVD-Angestellten konterkariert wurde, in dem es hieß, ein „Sachverständiger“ habe festgestellt, dass Horchler „Jude“ sei. Allerdings habe Horchler den „Frontnachweis erbracht“ (Abb. 3). Dieser Teil des Vermerks war nicht unwichtig, denn zunächst waren deutsch-jüdische Ärzte, die nachweislich im Ersten Weltkrieg an der Front gedient hatten, vom Entzug der Kassenzulassung ausgenommen.[15]

Die Überprüfung des „Falles Horchler“ durch einen Sachverständigen sowie die Bewertung durch die KV nahm offenbar knapp sieben Monate in Anspruch, denn der handschriftliche Vermerk stammt vom 7. Dezember 1933. Vermutlich waren eine durch ein prominentes lokales NS-Printmedium am 27. Juni 1933 verbreitete Meldung, Horchler sei „rein deutscher Abstammung“ und „jedem Volksgenossen [sei der] Besuch dieses Arztes zu empfehlen“, sowie eine Meldung, die eine komplette 180-Grad-Wendung der Redaktion im „Fall Horchler“ darstellte, der Anlass zur Begutachtung durch einen (unbekannten) Sachverständigen. Denn am 15. Juli 1933 widerrief das „Amtliche Organ der NSDAP“ im Gau Köln-Aachen, der Westdeutsche Beobachter, seine vorige Meldung bezüglich der „Abstammung“ Dr. Karl Horchlers. Dieser sei „durch den Vater mütterlicherseits jüdischer Abstammung“ (Abb. 4).[16]

Beschrifteter Rücken des Bandes (Abb. 2), Seite 1 des Fragebogens von Dr. Karl Horchler vom 12. Mai 1933 (Abb. 3) und Seite 3 desselben mit zwei aufgeklebten Ausschnitten aus dem Westdeutschen Beobachter vom 27. Juni und 15. Juli 1933 (Abb. 4) | Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00532

Die zweite archivalische Quelle von herausgehobener Bedeutung stellen die gebundenen Protokolle der Vorstandssitzungen des Hartmannbunds dar.[17] Sie umfassen einen Zeitraum von zwei Jahren (11. Mai 1931 bis 14. Mai 1933) und geben u. a. Auskunft darüber, wie sich der Geschäftsausschuss des Deutschen Ärztevereinsbunds und der Gesamtvorstand des Hartmannbunds zu denjenigen Vorstandsmitgliedern stellte, die sich – wie Dr. Hans Deuschl – im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) engagierten und exponierten.[18] Hatte man vorher Kritik an Deuschl und den nationalsozialistischen Ärzten und Ärztefunktionären geübt und sogar über deren eventuellen Ausschluss nachgedacht und diskutiert, so wandelten sich die Debatten in den entsprechenden Gremien nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland erheblich: In der Vorstandssitzung des Hartmannbunds am 11. März 1933 hielt das Vorstandsmitglied Dr. Friedrich Langbein nun die „Aufnahme von Beziehungen zu den N.S-Ärzten für nötig“; weitere Vorstandsmitglieder äußerten sich ähnlich.[19]

Abb. 5: Seite 2 des Protokolls der Vorstandssitzung des Hartmannbunds am 1. April 1933 (Ausschnitt; Transkription der Handschriften siehe Anm. [21]) | Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00017

Das Protokoll über die Sitzung des Engeren Vorstands am 24. März 1933 in Nürnberg (also drei Tage nach dem „Tag von Potsdam“ mit dem symbolträchtigen Handschlag zwischen Reichskanzler Adolf Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg) stellt ein eindrückliches Zeugnis der illusorischen Vorstellungen dar, die viele Vorstandsmitglieder von ihrer künftigen Rolle im Gefüge der ärztlichen Standesorganisationen und im Rahmen der Neuausrichtung der „deutschen Ärzteschaft“ offenbar hatten. So äußerte sich der geschäftsführende 2. Vorsitzende des Hartmannbunds, Dr. Franz Reichert, bezüglich des aus seiner Sicht zwar tatsächlich bereits „verschoben[en] Kräfteverhältnis[sses]“ innerhalb der Führung der ärztlichen Standesorganisation doch noch halbwegs optimistisch, denn: „Auch die Führung der nationalsozialistischen Aerzte sei in gewissem Druck, daher der Wunsch nach Verständigung“ mit den „alten“, noch amtierenden Vorständen.[20] Gleichzeitig spiegeln dieses Protokoll sowie – in noch stärkerem Maße – das Protokoll der Vorstandssitzung des Hartmannbunds am 1. April 1933 (Abb. 5) die weitgehende Anpassungsbereitschaft gegenüber dem neuen Regime, hier verkörpert durch den späteren „Reichsärzteführer“ Dr. Gerhard Wagner, wider. Darüber hinaus enthalten die Protokolle auch Einträge über die ersten antijüdischen Maßnahmen der KVD.[21]

Abb. 6: Lederaktentasche der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands, innen beschriftet | Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00835

Die dritte bedeutende Archivalie wurde nicht im Historischen Archiv der Standesorganisation in Köln, sondern bei der KBV in Berlin gefunden. Dieser Fund ist noch kurioser – und die Art seines Auffindens eine ganz eigene „Fallgeschichte“. Es handelt sich um eine prall gefüllte, buchstäblich aus den Nähten platzende Ledertasche (Abb. 6), die der Leiter des Stabsbereichs Recht der KBV, Dr. Christoph Weinrich, 2017 fand. Er war gebeten worden, den Inhalt des Safes eines seiner Amtsvorgänger, des KBV-Justiziars Dr. Jürgen W. Bösche (1928–2015), durchzusehen. Darüber berichtete er im September 2024:

„Hinter einigen Akten, die keinerlei Relevanz hatten, stand […] eine Aktentasche, die vorher noch niemand gesehen hatte. Auf dieser waren das Kürzel ‚KVD‘ sowie die Adresse ihres Sitzes in der Berliner Lindenstraße 42 aufgedruckt. […] Enthalten war ein in Teilen handgeschriebenes Protokollbuch [der o. g. Band mit Protokollen der Vorstandssitzungen des Hartmannbundes aus den 1930er-Jahren, Anm. U. P.], das in Teilen Brandschäden aufwies. Nach kurzer Einsicht und der Lektüre der ersten Seiten stellte ich fest, dass dieses Buch von enormem historischem Wert war, da ich den Auszug über den Ausschluss der jüdischen Ärzte aus der Selbstverwaltung gelesen hatte.“[22]

Wir gehen davon aus, dass die Tasche aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland stammt und von verschiedenen Justiziaren der KVD – u. a. dem im Abschnitt „Reichsärzteordnung und Reichsärztekammer“ erwähnten Rechtsberater von Hartmannbund und KVD, Clemens Bewer – benutzt wurde. Wann und wie die Dokumente aus der NS-Zeit in diese Ledertasche kamen und seit wann sie in dieser Form in Bösches Safe aufbewahrt wurde, ist unklar. Die Lederaktentasche enthält mehrere, zum Teil dicke Stapel von Original-Dokumenten und einige wenige Fotokopien. Etliche davon gewähren Einblicke in das Handeln diverser Institutionen und Organisationen, die Einfluss auf die Ausgestaltung und Umsetzung gesundheitspolitischer Maßnahmen des NS-Regimes nahmen – nicht zuletzt die KVD und deren regionale Dienststellen.

Abb. 7: Vorder- und Rückseite des Schreibens der KVD-Landesstelle Pommern, Stettin, an die Reichsführung der KVD, Berlin, vom 19. Februar 1944 | Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00835

Als besonders bezeichnend für die Rigidität der Maßnahmen, die jene Akteure als Handlungsmaximen zum Umgang mit Zwangsarbeiter:innen – hier konkret: mit zivilen polnischen Arbeitskräften im Deutschen Reich – ausgaben, kann das Schreiben vom 19. Februar 1944 mit dem Betreff „Krankenscheine für Polen“ gelten (Abb. 7).

Zur Ausstellung: Das Prinzip „Fall­geschichte“ und die These von der „Systemerkrankung“

Die Ausstellung über Ärzt:innen und Patient:innen im Nationalsozialismus nutzt Fallgeschichten sowohl auf den Ausstellungsbannern als auch in wichtigen inhaltlichen Bereichen der Medienstationen – nämlich in den  Interviews mit Ärzt:innen bzw. Söhnen, Töchtern oder Enkeln von Ärzt:innen. „Fälle“ sind hier nicht immer gleichbedeutend mit Biografien, biografischer Darstellung oder (auto-)biografischer Selbstauskunft. Auch wenn wir überwiegend Lebens­geschichten von Ärzt:innen oder Patient:innen als Ausgangspunkt unserer „Fallrekonstruktionen“ gewählt haben, stehen doch häufig Beziehungsgeschichten (wie im Abschnitt „Solidarität und Hilfeleistung“) und Konfliktgeschichten (wie im Abschnitt „Ärztliche Standesorganisationen und ihre ‚Gefolgschaft‘“) im Mittelpunkt der Betrachtung, bisweilen werden auch zwei Biografien, Karrieren, Einstellungen oder Handlungsweisen kontrastierend dargestellt (wie im Abschnitt „Medizinische Versorgung in Konzentrations- und Vernichtungslagern“). Und im Abschnitt „Das ‚Haus der deutschen Ärzte‘ in Berlin“ bilden die Geschichte eines Grund­stücks und ein Neubau-Projekt der KVD den zu beleuchtenden „Fall“.

Angesichts dieser großen Bandbreite von „Fällen“ ist zu betonen, dass in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt darüber diskutiert wurde, „was ein Beispiel, ein Fall, eine Fallstudie und eine Fallgeschichte sei und wie sie sich voneinander abgrenzen“ lassen, wie „die Aussageweite eines Falles einzuschätzen ist und ob und inwiefern er sich verallgemeinern lässt“.[23] Dabei wurde daran erinnert, dass es kein Geringerer als Sigmund Freud war, der die Fallstudie als methodischen Ansatz entwickelte, wie bei den berühmten Fällen des „Rattenmannes“, des „Wolfsmannes“, des „kleinen Hans“, von „Dora“ oder „Fräulein Anna O.“.[24] Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive griffen namentlich Vertreter:innen der Mikrogeschichte und der Alltagsgeschichte die Anregungen, die seit den 1920er-Jahren aus Psychoanalyse und Sozialwissenschaften gekommen waren, auf, indem sie sich der Arbeit mit Fallgeschichten und entsprechenden in die Tiefe gehenden Analysen widmeten.[25]

Der von uns für die Ausstellung gewählte konzeptionelle Ansatz spiegelt wider, dass wir den historischen Akteur:innen und Akteursgruppen – seien es nun Ärzt:innen, Patient:innen, ärztliche Standesorganisationen oder andere Kollektiv­akteure – mit Blick auf das behandelte Thema eine entscheidende Bedeutung beigemessen haben. Bei der Auswahl der „Fallgeschichten“ haben wir auf eine möglichst große regionale Verbreitung geachtet und ebenso darauf, dass die dargestellten „Fälle“, nicht immer nur Typisches oder gar „Paradigmatisches“ zeigen. Der Abschnitt „Ärztliche Standesorganisationen und ihre ‚Gefolgschaft‘“ etwa stellt mit der unangepassten, „widerspenstigen“ KVD-Angestellten Gerta Disselkamp explizit einen Ausnahmefall dar. Denn ein vergleichbares Verhalten konnten wir in den zahlreichen von uns ausgewerteten Personal- und Sachakten des KVD-Bestands nicht finden. Ebenso, wie manche Erzählungen von Zeitzeug:innen oder deren Angehörigen, die wir in den Interviews in der Medienstation zugänglich machen, auch Erfahrungen, Interpretationen und Darstellungsweisen enthalten, die in Teilen nicht repräsentativ sind, fungiert der Fall der Gerta Disselkamp als „Korrektiv zu etablierten Narrativen“,[26] etwa dem vom angeblich keineswegs so seltenen Widerspruchs- oder solidarischen Handelns mit NS-Verfolgten. Im Gegenteil zeigen gerade auch die KVD-Akten, dass Angestellte und Leitungspersonal die politischen Ziele der Nationalsozialisten im Prinzip immer geflissentlich und konsequent umsetzten und häufig auch eigene Vorschläge zur Umsetzung entsprechender Maßnahmen machten.

Sowohl die KVD-Akten als auch die „Fallgeschichten“ verdeutlichen, dass konkrete Akteur:innen und Akteursgruppen die Ausgestaltung der Rollen vornahmen, die Ärzt:innen und Patient:innen in einem Gesundheitssystem spielten (bzw. zugedacht waren), welches seit 1933 zunehmend von nationalsozialistischer Ideologie und Politik bestimmt war. Die ärztlichen Standesorganisationen, allen voran die im August 1933 gegründete KVD, sowie die Reichsärztekammer und das Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP traten auf gesundheitspolitischem Gebiet als maßgebliche „Player“ auf den Plan. Und wenn wir für die Ausstellung den Titel „Systemerkrankung“ gewählt haben, so wollen wir damit den Blick darauf lenken, in welch hohem Maße der politische Systemwechsel in Deutschland mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Voraussetzung für radikale Umbrüche und Paradigmenwechsel auf gesundheitspolitischem Gebiet war. 

Auch wenn wir mit der „Diagnose“ der „System­erkrankung“ keineswegs politisch-gesellschaft­liche Entwicklungen im historischen Rückblick pathologisieren wollen – „Systemerkrankung“ ist hier vielmehr als Metapher zu verstehen –, zeichnet die Ausstellung an vielen Beispielen nach, auf welchen Feldern die eingangs erwähnte „Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ (und Ärzte-Funktionäre) stattfand und bisweilen tödliche Auswirkungen hatte. Dabei ist zu bedenken, dass die von uns konzipierte Ausstellung eben (nur) das ist: eine Ausstellung – und keine umfassende geschichtswissenschaftliche Monografie zum Thema. Doch einige wichtige Bausteine etwa für eine Studie über die Entwicklung der ärztlichen Standesorganisationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, liefern – indem sie Anregungen bereits vorliegender organisationssoziologischer Untersuchungen[27] aufgreifen – sowohl das Forschungsprojekt als auch die Ausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“. 

[1] Dr. Viktor E. Frankl: Lebenswert und Menschenwürde, in: „Niemals vergessen!“ Ein Buch der Anklage, Mahnung und Verpflichtung. Hrsg. von der Gemeinde Wien, Verwaltungsgruppe III, Kultur und Volksbildung. Ausführender Stadtrat: Dr. Viktor Matejka; Direktor: Leo C. Friedlaender, Mag.-Abt. 8, Wien 1946, S. 51–53, S. 51 (Hervorhebungen im Original).

[2] Ebenda (Hervorhebungen im Original).

[3] Das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité verwendete dieses Zitat 2020 für den Titel der Ausstellung über „Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin“. Vgl. Judith Hahn (Hrsg.): „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“. Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2020. Das Originalzitat lautet: „The beginnings at first were merely a subtle shifting in emphasis in the basic attitude of the physicians.“ Zitiert nach Derek Humphry/Ann Wickett: The Right to Die. Understanding Euthanasia, New York u. a. 1986, S. 27.

[4] So spricht der Historiker Hans-Walter Schmuhl, auf einen viel zitierten Interpretationsansatz Hans Mommsens zurückgreifend, etwa von einer „kumulative[n] Radikalisierung der deutschen Erbgesundheitspolitik“ seit 1933; vgl. Hans-Walter Schmuhl: Sterilisation, „Euthanasie“, „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: Norbert Frei (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 295–308, S. 308.

[5] Vgl. hierzu den Abschnitt „Reichsärzteordnung und Reichsärztekammer“. Belege für weitere Einschränkungen der Schweigepflicht sind an verschiedenen Stellen in den von uns ausgewerteten historischen Archivbeständen der KVD zu finden. So wird etwa in dem „Streng vertraulich!“ gekennzeichneten Rundschreiben 10/37 der Reichsärztekammer an die Ärztekammern und Ärztlichen Bezirksverwaltungen vom 17. Mai 1937 eine Mitteilung des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 28. April 1937 wörtlich wiedergegeben, die die neuen Grundlagen und Bedingungen für eine fallweise Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht definierte. Diese könne in Fällen erfolgen, in denen die Wehrmacht entsprechende ärztliche Unterlagen „dienstlich anfordert, denn die von der Wehrmacht wahrgenommenen Interessen des Volkes haben dem Interesse der einzelnen Kranken an der Geheimhaltung persönlicher Angelegenheiten immer vorzugehen“. Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundes­vereinigung, Berlin, 00106. Vgl. auch ebenda, 00113, „Streng vertraulich!“ gekennzeichnetes Rundschreiben von Dr. L. Conti, Reichs­ärztekammer, München, an die Leiter der Ärztekammern vom 21. November 1944, betr.: Aufhebung der Führeranordnung über Aufhebung der Schweigepflicht in besonderen Fällen. Bei den „besonderen Fällen“ handelte es sich um „Krankheiten führender Persönlichkeiten des Staates, der Partei, der Wehrmacht, der Wirtschaft usw.“, wegen derer bis dahin „an Prof. Karl Brandt, Berlin W 8, Reichskanzlei, Meldung zu erstatten“ gewesen war.

[6] Siehe Winfried Süß: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003, S. 54.

[7] Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00513.

[8] Dieser diskriminierende Sonderstatus wurde für all diejenigen jüdischen Ärzt:innen geschaffen, denen aufgrund der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juni 1938 die Approbation zum 30. Sep­tem­ber 1938 entzogen worden war, die aber ihren Beruf unter der neuen Bezeichnung weiter ausüben durften – lediglich zur Behandlung jüdischer Mitbürger:innen (und denen – nach nationalsozialistischer, in den sog. Nürnberger Gesetzen formulierter Sicht – die „Reichsbürger­rechte“ bereits seit drei Jahren entzogen worden waren). Vgl. hierzu Rebecca Schwoch: Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945, Frankfurt am Main 2018; sowie dies.: „Praktisch zum Verhungern verurteilt“. „Krankenbehandler“ zwischen 1938 und 1945, in: Thomas Beddies/Susanne Doetz/Christoph Kopke (Hrsg.): Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung, Berlin, Boston 2017, S. 75–91.

[9] Dr. Heinrich Grote, der ab 1928 der Ärztekammer für die Provinz Hannover und ab 1929 dem Ausschuss des Hartmannbunds angehört hatte, war seit 1934 Stellvertreter des Reichsärzteführers Dr. Gerhard Wagner bei der Reichsleitung der KVD. Im August 1932 war er der NSDAP beigetreten und im selben Jahr auch der SS, in der er im August 1938 den Rang eines SS-Standartenführers bekleidete. Vgl. [o. Verf.:] Pg. Dr. med. Heinrich Grote, in: Ziel und Weg – Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes e. V. 8 (1938), S. 139.

[10] Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00513, o. g. Rundschreiben, S. 5.

[11] Zu diesem Aktenordner vgl. die Untersuchung des Co-Kurators der Ausstellung, Sjoma Liederwald: Ein Aktenordner mit der Aufschrift „Juden“. Neue Quellen zur Verdrängung jüdischer Ärzt:innen aus ihrem Beruf 1933–1945. Unveröffentlichte wissenschaftliche Hausarbeit, TU Berlin 2020. 

[12] Das genannte Rundschreiben ist ebenfalls überliefert in: Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00513.

[13] Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00532.

[14] Siehe ebenda.

[15] Jüdische Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und ihre Angehörigen sowie vor dem 1. August 1914 Verbeamtete waren von dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 vorerst ausgenommen worden. Mit Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Gesetze im September 1935 entfiel diese Ausnahme.

[16] Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00532. Der Zeitungsausschnitt mit der „Zur Klarstellung!“ überschriebenen Meldung ist eingeheftet zwischen zwei Blättern des Fragebogens von Dr. Karl Horchler vom 12. Mai 1933 (Hervorhebung im Original).

[17] Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00017.

[18] Siehe ebenda, Protokoll der Vorstandssitzung des Hartmannbunds vom 22. August 1931, das Stellungnahmen der beiden o. g. Gremien zu einem Artikel von Hans Deuschl im Völkischen Beobachter vom 8.8. und 12.8.1931 mit dem Titel „Deutsche Aerzte, wacht auf!“ enthält. Zu den Kontroversen zwischen Deuschl und dem Vorsitzenden des Hartmannbunds sowie des Deutschen Ärztevereinsbunds Alfons Stauder (1878–1937), der am 7. Juni 1933 von seinen Ämtern zurücktrat, vgl. ebenda, Protokoll der Vorstandssitzung am 3./4. Juni 1932.

[19] Siehe das entsprechende Protokoll in: ebenda.

[20] Vgl. vor allem die Wiedergabe der entsprechenden Redebeiträge von Stauder, Reichert und Haedenkamp in besagtem Protokoll in: ebenda. Dass neben Stauder und Dr. Karl Haedenkamp (NSDAP-Mitglied seit 1934) ausgerechnet auch der geschäftsführende 2. Vorsitzende des Hartmannbunds, Dr. Franz Reichert, sich entsprechend äußerte, verwundert weniger: Nur kurze Zeit später, im Mai 1933 trat er der NSDAP bei; er war auch Mitglied im NSDÄB und (seit 1939) Leiter der Abteilung Statistik im Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP sowie Geschäftsführer der Reichsärztekammer in München, außerdem Leiter der Arbeitsgemeinschaft Statistik beim Reichsgesundheitsführer. Vgl. Winfried Süß: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München 2003, S. 466 (zu Haedenkamp) sowie S. 474 (zu Reichert). Zu Reichert vgl. auch: Gerhard Baader: Keine Kollegen? – Diskriminierung, Vertreibung und Verfolgung jüdischer Ärzte in Deutschland, in: Bayerisches Ärzteblatt, April 1989, S. 157-171, hier S. 163; sowie [o. Verf.:] Persönliche Nachrichten, in: Ärzteblatt für Rheinland, Jg. 1938, Nr. 19, 15. September 1938, S. 304.

[21] Siehe Alt-Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, 00017. Überschrieben ist der Bericht folgendermaßen: „Verhandlungsbericht über die am Sonnabend, den 1. April 1933, vorm. 9 ½ Uhr in Leipzig. Anwesend: Stauder, Reichert, Streffer, Toeplitz, Hädenkamp, Hartmann, Hadrich, Hardt, Langbein, Schneider, Bewer, Miemietz, Eichelberg, Lautsch, Sonnenberg. Als Gäste: Dr. Wagner – München, Dr. Deuschl – München[.] Entschuldigt: Wester, Rüder. ausgeschieden: Ritter“. Der Text im abgebildeten Ausschnitt der Seite lautet: „In d. Ambulatorien Berlin ist allen Ärzten gekündigt. An der weiteren Verhandlung nimmt der staatliche Kommissar für Baden Herr Dr. Schütz teil. Er hat sämtliche jüdischen Kassenärzte in Baden aus der Kassenpraxis entfernt. Er hat neue Kassenärzte zugelassen (nicht jüdische) und hat sie bis die Zulassungen bisher vom Schiedsamt formell aussprechen lassen. Für die Zukunft lehnt er eine derartige Bindung ab. Nachträglich erklärt Herr Dr. Schütz, daß es sich nur um Maßnahmen im Rahmen der Boykottabwehraktion gehandelt habe.
Wagner: Wir verlangen, daß künftig keine Juden mehr zur Kassenpraxis zugelassen werden. Was mit den bereits zugelassenen Juden geschehen soll, darüber kann ich heute noch nichts sagen. 
Schütz: ist der Ansicht, daß jüdische Kassenärzte, die aus der Kassenpraxis [entfernt sind,] auch nicht mehr in die Kassenpraxis zurückkehren dürfen. 
Es wird gebeten, seine Verfügungen uns zu geben, um beim R.A.M. [Reichsarbeitsministerium] vorstellig werden zu können. Das wird zugesagt.“ (Unterstreichung und Durchstreichung im Original)

[22] Siehe: Schriftliche Mitteilung von Dr. Christoph Weinrich an den Verfasser vom 19. September 2024.

[23] Siehe Marietta Meier: Paradigmatische Fälle in der Geschichtswissen­schaft. Kommentar zu einem historiographischen Normalfall, in: Ruben Hackler/Katharina Kinzel (Hrsg.): Paradigmatische Fälle. Konstruktion, Narration und Verallgemeinerung von Fall-Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Basel 2016, S. 157–166, Zitate: S. 157 und S. 162. Aus psychotherapeutischer Sicht etwa wird von „paradigmatischen Lebensgeschichten“ gesprochen; vgl. Karl-Ernst Bühler: Die Biographie in Psychiatrie und Psychotherapie, in: ders. (Hrsg.): Zeitlichkeit als psychologisches Prinzip. Über Grundfragen der Biographie-Forschung, Köln 1986, S. 135–169, hier S. 152ff.

[24] Vgl. Joy Damousi/Birgit Lang/Katie Sutton: Introduction. Case Studies and the Dissemination of Knowledge, in: dies. (Hrsg.): Case Studies and the Dissemination of Knowledge, Hoboken 2015, S. 1–12, S. 5.

[25] Vgl. Ruben Hackler/Katharina Kinzel: Paradigmatische Fälle in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Eine wissenschaftshistorische Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Paradigmatische Fälle. Konstruktion, Narration und Verallgemeinerung von Fall-Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Basel 2016, S. 5–26, hier S. 6ff. und S. 14.

[26] Vgl. ebenda, S. 15ff.

[27] So könnte z. B. ein stärker ausgeprägter organisationssoziologischer Blick in Bezug auf die Entwicklung der ärztlichen Standes­organisa­tionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie ihn etwa der Soziologe Stefan Kühl in seiner 2014 vorgelegten Studie „Ganz normale Organisationen“ vorgelegt hat, hilfreich sein, um noch genauer ver­stehen und einordnen zu können, wie solche Organisationen funktionieren und wie sie zu wichtigen „Transmissionsriemen“ und Werkzeugen bei der Umsetzung der menschenverachtenden nationalsozialistischen Politik werden konnten. Vgl. Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. In diesem Zusammenhang hält Kühl z. B. die „Ausweitung von Indifferenzzonen in Organisationen“ für ein wichtiges Element und spricht – einen Begriff des 1933 aus Deutschland über Frankreich und Portugal in die USA emigrierten Soziologen Lewis A. Coser aufgreifend – im Hinblick auf Entwicklungen in totalitären Systemen, namentlich im NS-Staat, von „gierigen Organisationen“ als „Organisationen, die von ihren Mitgliedern exklusive Loyalität verlangen, indem sie andere Rollenengagements zu kontrollieren, einzuschränken oder gar zu unterbinden suchen“. Vgl. ebenda, S. 307-321, Zitat: S. 315f.