Umstrittene Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik
Für eine neue Sexualethik: Dr. Else Kienle

Die in Heidenheim geborene Else Kienle (1900–1970) kam aus einer bürgerlichen schwäbischen Familie. Nach Abschluss ihres Medizinstudiums 1924 arbeitete sie als Assistenzärztin in den Baracken für Geschlechtskranke im Stuttgarter Katharinenhospital. 1928 eröffnete sie eine eigene Klinik für Haut- und Beinleiden.
Öffentlichkeitswirksam kämpfte Kienle gemeinsam mit dem jüdischen Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf für eine neue Sexualethik und gegen das generelle Abtreibungsverbot durch den § 218 StGB. Für beide hatte ihr politisches Engage-ment 1931 strafrechtliche Ermittlungsverfahren zur Folge. Die Anklage gegen Kienle lautete: Tötung durch Abtreibung in mehr als 200 Fällen. Der Prozess wurde eingestellt, doch ihre Existenz in Stuttgart war zerstört. Nachdem Kienle kurz eine Praxis in Frankfurt am Main betrieben hatte, emigrierte sie 1932 über Frankreich
und England in die USA. In New York war sie erfolgreich als plastische Chirurgin tätig.

Umkämpfte Zonen: Sexualhygiene – Sexualreform – Selbstbestimmungsrecht
Kontroverse Debatten prägten die Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik. Kernpunkte des Streits waren Fragen der Bevölkerungs- und Sozialpolitik, der Geburtenkontrolle, der Sexualberatung sowie des Abtreibungsrechts. Erst ein Urteil des Reichsgerichts vom 11. März 1927 ermöglichte Ausnahmen vom Abtreibungsverbot, wenn aus ärztlicher Sicht medizinische Gründe hierfür vorlagen – eine Regelung, die in der Ärzteschaft selbst jedoch umstritten war.
Zwischen 1919 und 1932 wurden über 400 Sexualberatungsstellen in Deutschland gegründet, 40 davon allein in Berlin. Wichtige Akteure waren der 1905 von der Frauenrechtlerin Dr. Helene Stöcker gegründete Bund für Mutterschutz und Sexualreform, die 1913 von dem Arzt Dr. Felix A. Theilhaber gegründete Gesellschaft für Sexualreform sowie der Reichsverband für Geburtenregelung und Sexualhygiene, dessen Stuttgarter Sexualberatungsstelle die Ärztin Else Kienle ehrenamtlich leitete.