EN

Schuldsprüche, Freisprüche und neues Unrecht

Antisemitischer Skandal um jüdischen Chefarzt: Prof. Herbert Lewin


Foto von Herbert Lewin, 1958. Fotograf: unbekannt | <span class=prov>Privatbesitz Gerald und Rena Matzner</span>
Foto von Herbert Lewin, 1958. Fotograf: unbekannt | Privatbesitz Gerald und Rena Matzner

Herbert Lewin (1899–1982) eröffnete 1931 eine gynäkologische Praxis in Berlin. 1935 wurde er Chefarzt der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Berliner Jüdischen Krankenhauses. Anschließend war er am Krankenhaus des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache in Köln tätig. Im Oktober 1941 wurde er mit seiner Frau ins Ghetto Łódź und im August 1944 weiter nach Auschwitz deportiert; Alice Lewin überlebte die Lagerhaft nicht. Im Sommer 1945 kehrte Herbert Lewin nach Köln zurück, habilitierte 1948 und wurde 1950 Chefarzt an der Städtischen Frauenklinik in Offenbach.

Die Kontroversen um seine Anstellung führten zum ersten antisemitischen Skandal der Bundesrepublik. Denn Lewin wurde von Ärzten im Offenbacher Gemeinderat, Ärzten und Krankenschwestern der Klinik und dem CDU-Bürgermeister der Stadt abgelehnt. Als Begründung gab man an, keine Frau könne sich dem (angeblichen) Rachegefühl eines „KZlers“ als Patientin anvertrauen. Erst als die vorgesetzten Behörden intervenierten und öffentlicher Protest einsetzte, kam es zur Einstellung Lewins.

Schreiben von Dr. Ludwig Sievers, Kassenärztliche Vereinigung, Landesstelle Niedersachsen, Hannover, an Rechtsanwalt Dr. Arnold Hess, Kassenärztliche Vereinigung des Bundes­gebiets, Köln, 5. Februar 1952, betr.: Rechtsnachfolge KVD  | <span class=prov>Alt‑Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00512</span>
Schreiben von Dr. Ludwig Sievers, Kassenärztliche Vereinigung, Landesstelle Niedersachsen, Hannover, an Rechtsanwalt Dr. Arnold Hess, Kassenärztliche Vereinigung des Bundes­gebiets, Köln, 5. Februar 1952, betr.: Rechtsnachfolge KVD  | Alt‑Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Berlin, 00512

Sühne und „Rechtsnachfolge“

Sühne und „Rechtsnachfolge“
Im Nürnberger Ärzteprozess vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 standen 19 KZ-Ärzte und eine KZ-Ärztin, ein Jurist sowie zwei Verwaltungsfachleute als direkt Ausführende bzw. als Organisatoren von Medizinverbrechen vor einem US-amerikanischen Militärgericht. Sieben der 23 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, sieben freigesprochen. Fünf Angeklagte erhielten lebenslange Haftstrafen, vier weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren.

23 Angeklagte. Wurde – über diesen engsten Kreis von „Hauptverantwort­lichen“ hinaus – in der Nachkriegszeit die Frage nach Schuld und Verantwortung deutscher Ärztinnen und Ärzte überhaupt gestellt? Die Nachfolgeorganisation der KVD wollte sich nicht mit ihr auseinandersetzen – und musste dies bald auch nicht mehr: Das Bundesministerium für Arbeit bescheinigte am 30. April 1953, dass es sich bei der KVD „nicht um eine nationalsozialistische Organisation gehandelt“ habe. Ein Jahr zuvor hatten Vertreter der kassenärztlichen Nachkriegsorganisationen noch Restitutionsforderungen von jüdischer Seite befürchtet, falls die Kassenärztliche Vereinigung
des Bundesgebiets die Rechtsnachfolge der
KVD anträte.