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Kontinuitäten, neues Leid und spätes Zeugnis

Vom SS-Mörder zum Kinderkurheim-Leiter: Dr. Werner Scheu


Foto von Werner Scheu, um 1942. Fotograf: unbekannt | <span class=prov>Bundesarchiv, Berlin, R 9361 III (Personenbezogene Unterlagen der SS und SA), 552871</span>
Foto von Werner Scheu, um 1942. Fotograf: unbekannt | Bundesarchiv, Berlin, R 9361 III (Personenbezogene Unterlagen der SS und SA), 552871

Werner Scheu (1910–1989) wuchs als Sohn einer reichen Gutsbesitzerfamilie im ost­preußischen, heute in Litauen gelegenen Heydekrug (Šilutė) auf. Er studierte Medizin, kehrte aber 1934 in die Landwirtschaft zurück. 1939 schloss er sich den Nationalsozialisten an. Am 5. Juli 1941 leitete er die Erschießung von mehr als 200 jüdischen Insassen eines von ihm privat geführten Arbeitslagers. Späteren Zeugenaussagen zufolge erschoss er mindestens vier der Opfer selbst. 

Nach dem Krieg betrieb Scheu auf der Nordseeinsel Borkum das private Kinderkurheim „Mövennest“. Dort kam es regelmäßig zu Misshandlungen von Kindern. 1965 verurteilte der Bundesgerichtshof Scheu wegen der Morde im Jahr 1941 zu lebenslanger Haft, doch bereits 1972 wurde er begnadigt. Für die systematischen Misshandlungen der Kinder in seinem Kurheim ist Scheu nie belangt worden.

Als „Verschickungskind“ im „Mövennest“: Isa Jakob-Pike


Innenaufnahme aus dem von Dr. Werner Scheu betriebenen Privat-Kinderheim „Mövennest“, undatierte Foto-Postkarte | <span class=prov>Sammlung Ulrich Prehn, 2024</span>
Innenaufnahme aus dem von Dr. Werner Scheu betriebenen Privat-Kinderheim „Mövennest“, undatierte Foto-Postkarte | Sammlung Ulrich Prehn, 2024

Isa Jakob-Pike, 1962 in Gießen geboren, kam als Zehnjährige für sechs Wochen in das Kinderkurheim „Mövennest“ auf Borkum, in dem ein Klima der Angst herrschte. Das Heimpersonal übte ein perfides System von Überwachen und Strafen aus. Isa Jakob-Pike berichtete z. B. davon, wie sie eine ganze Nacht barfuß im Nachthemd auf dem Flur stehen musste, weil sie es gewagt hatte, entgegen dem ausdrücklichen Verbot nachts zur Toilette zu gehen. Ihre Erlebnisse in dem Heim hat sie 2017 in ihrem Buch „KOPFimBAUCH“ festgehalten.

1988 aufgenommenes Foto des Aktivisten Paul Wulf, eines Überlebenden der NS-Zwangs­sterilisationen. Er wurde durch seine Ausstellungen von Collagen aus Archivmaterial zur Eugenik und zu NS-Medizinverbrechen bekannt. Fotograf: Ralf Emmerich | <span class=prov>Stadtmuseum Münster, Sammlung Ralf Emmerich</span>
1988 aufgenommenes Foto des Aktivisten Paul Wulf, eines Überlebenden der NS-Zwangs­sterilisationen. Er wurde durch seine Ausstellungen von Collagen aus Archivmaterial zur Eugenik und zu NS-Medizinverbrechen bekannt. Fotograf: Ralf Emmerich | Stadtmuseum Münster, Sammlung Ralf Emmerich

„… ob eine Unfruchtbarmachung Erbkranker noch möglich ist …“

Diese Frage warf die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern und der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen des Bundesgebietes in einem Rundschreiben vom 21. September 1950 auf. Doch nicht nur die Frage, ob sogenannte Erbkranke noch sterilisiert werden dürften, beschäftigte die ärztlichen Standesorganisationen, sondern vor allem, wer für die Erstellung entsprechender Gutachten zuständig sei: die Ärztekammern der jeweiligen Länder oder die staatlichen Gesundheitsbehörden? 

Das besagte Rundschreiben steht beispielhaft für Kontinuitäten im Selbstverständnis deutscher Ärztinnen und Ärzte bis in die 1950er- und 60er-Jahre hinein. Erst ab den 1970er-Jahren begannen Patienten-Initiativen, Studierende an medizinischen Fakultäten und einige wenige Ärzte und Medizin­historiker sich kritisch mit der NS-Medizin aus­einanderzusetzen. Es dauerte bis 1989, dass ein Deutscher Ärztetag sich dem Thema „Medizin und Ärzte im Nationalsozialismus“ ausführlicher widmete.